Konzert N°1: Beethovens unsterbliches Geheimnis

 

Ein Konzert-Theater mit Musik von Ludwig van Beethoven (1770–1827)

und Ausschnitten aus Briefen, Tagebucheinträgen, Memoiren und Zeitzeugenberichten 

 

 

Programm

 

op.18/1 F-Dur                                          2. Adagio affettuoso ed appassionato

op.59/2 e-Moll                                         4. Finale: Presto

 

Zuspielung: Variationen „Ich denke Dein“ für Klavier vierhändig WoO 74 D-Dur 

 

op.130 B-Dur                                          2. Presto

op. 59/1 F-Dur                                         3. Adagio molto e mesto

 

Andante favori für Klavier F-Dur WoO 57 (arr. für Streichquartett von F.Poly)

 

op. 95 f-Moll                                            1. Allegro con brio,

                                                                  2. Allegretto ma non troppo

                                                                  3. Allegro assai vivace ma serioso 

                                                                  4. Larghetto espressivo-Allegretto agitato-Allegro

 

                                                                                                Pause

 

op.130 B-Dur                                             1. Adagio ma non troppo – Allegro,

                                                                   5. Cavatina: Adagio molto espressivo

op.59/2 e-Moll                                         2. Molto Adagio. Si tratta questo pezzo con molto di sentimento

 

 

 

Christoph Hackenberg & Almut Schäfer-Kubelka Puppenspiel 

Claudia Six Puppenbau

Lisa Zingerle Kostüm & Ausstattung

Marvin Alexander Schriebl Assistenz

 

Epos:Quartett

Christine Busch Violine

Verena Sommer Violine

Klaus Christa Viola

Mathias Johansen Violoncello

 

Simon Meusburger Buch Regie 

Klaus Christa Idee & Konzept

Dr. Rita Steblin Wissenschaftliche Beratung

 

Eine Kooperation der Pforte mit dem Schubert Theater Wien

 

 

 

 

Gedanken zur Musikauswahl

von Klaus Christa

 

 

op. 18/1 F-Dur | 1. Adagio affetuoso ed appassionato

Das Werk Beethovens spielt für mich als Bratschist eines Streichquartetts natürlich eine zentrale Rolle und in der Beschäftigung mit diesem stellte sich mir schon vor Jahren u. a. folgende musikalische Frage: Warum fällt der zweite Satz seines Opus‘ 18/1 so sehr aus dem Rahmen? Dieses Adagio wirkt wie ein Meteorit, das in die Sammlung eingeschlagen hat. Der hochexpressive Tonfall sprengt den Rahmen der bisher vom jungen Beethoven geschriebenen Werke und öffnet eine neue Welt musikalischen Ausdrucks. Im Mittelteil lässt Beethoven alle Hüllen fallen, er verliert völlig die Fassung, ein Ausbruch nackter Verzweiflung lässt uns Hörer_innen erschüttert zurück. Tief trauriger Gesang steht neben bitterem und verzweifeltem Rufen. Hier spricht ein Berührter, nein, ein Erschütterter von seiner tiefen Traurigkeit. In dieser Klarheit ist das verstörend neu: Beethoven, der zu jener Zeit seine Emotionen noch in elegante Gewänder kleidet, wie das seine Vorgänger Haydn und Mozart auch getan haben.

Die Recherche führte mich zum mitreißenden Buch des Musikwissenschaftlers Harry Goldschmidt über die Identität der «unsterblichen Geliebten» und seine Erkenntnisse scheinen mir zwingend: 1799 unter- richtete Beethoven die beiden Schwestern Josephine und Therese von Brunsvik im Klavierspiel und er verliebte sich unsterblich in die junge Josephine. Über Wochen verbrachte er täglich mehrere Stunden mit den beiden Damen im Hause der Familie Brunsvik, bis er erfuhr, dass die junge Frau, die er liebte, den Grafen von Deym heiraten würde. Für Beethoven brach eine Welt zusammen und diese Erschütterung erklärt, warum dieser langsame Satz so außer sich geriet.

Beethoven befragte seinen Freund Amenda nach einer Aufführung, was dieser sich beim Anhören des Adagios gedacht hatte. Er antwortete:

«Es hat mir den Abschied zweier Liebenden geschildert.» «Wohl», entgegnete Beethoven, «ich habe mir dabei die Szene im Grabgewölbe aus Romeo und Julia gedacht.» (Anm.: Jene Szene, in der Romeo in der Gruft die vermeintlich tote Julia betrachtet und sich dann selbst tötet. Julia, wiedererwacht, folgt ihm dann im Entsetzen über seinen Tod nach.)

 

 

op. 59/2 3-Moll | 4. Finale Presto

Die markanteste stilistische Veränderung in Beethovens Werk vollzog sich während seiner größten Lebenskrise, die ihren Ausdruck im 1802 verfassten Heiligenstädter Testament an seine Brüder Kaspar Karl und Johann fand. Seine Verzweiflung über die fortschreitende Ertaubung brachte ihn an den Rand des Selbstmords: «es fehlte wenig, und ich endigte selbst mein Leben – nur sie die Kunst, sie hielt mich zurück, ach es dünkte mir unmöglich, die Welt eher zu verlassen, bis ich das alles hervorgebracht, wozu ich mich aufgelegt fühlte.»

Ab diesem Zeitpunkt komponierte Beethoven anders: radikal frei im Ausdruck und in der Form. Er hatte «seine» Sprache gefunden. Beethovens Arbeitsweise war, unzählige Skizzen zu einer bestimmten musikalischen Idee anzufertigen, um dann anhand dieser das endgültige Thema eines Satzes zu entwickeln. Anhand der vielen Skizzen zum Finale Presto – zwei Skizzen erklingen, bevor wir den ganzen Satz musizieren – ist genau nachzuvollziehen, wie sich der Komponist immer besseren musikalischen Lösungen annähert. «Allein Freiheit, weitergehen, ist in der Kunstwelt wie in der ganzen großen Schöpfung Zweck.» (aus einem Brief Beethovens)

 

 

Ausschnitt aus «Ich denke dein» (Gedicht von J. W. v. Goethe) Lied mit sechs Variationen für Klavier zu vier Händen

WoO 74 D-Dur

Beethoven hat den beiden Schwestern Therese und Josephine von Brunsvik ein sehr seltsames Werk gewidmet und zwar das Lied «Ich denke dein» nach einem Gedicht von Goethe, gefolgt von 6 Variationen für Klavier vierhändig. Diese Konstellation – ein Lied mit anschließenden Klaviervariationen – ist in der Musikgeschichte völlig einzigartig und wenn wir das Goethe-Gedicht betrachten, dann wird schnell klar, wem Beethoven mit diesem Lied ein Ständchen singt:

 

Ich denke dein, wenn mir der Sonne Schimmer

Vom Meere strahlt;

Ich denke dein, wenn sich des Mondes Flimmer

In Quellen malt.

 

Ich sehe dich, wenn auf dem fernen Wege

Der Staub sich hebt;

In tiefer Nacht, wenn auf dem schmalen Stege

Der Wandrer bebt.

 

Ich höre dich, wenn dort mit dumpfem Rauschen

Die Welle steigt.

Im stillen Haine geh' ich oft zu lauschen,

Wenn alles schweigt.

 

Ich bin bei dir; du seist auch noch so ferne,

Du bist mir nah!

Die Sonne sinkt, bald leuchten mir die Sterne.

O, wärst du da!

 

 

op. 130 B-Dur | 2. Presto

Eine berührende Besonderheit seiner späten Streichquartette ist die Selbstverständlichkeit, mit der Beethoven die verschiedensten Dinge nebeneinander stehen lässt: Schweres neben Leichtem, Komplexes neben ganz Einfachem, Brüche neben raffinierten Übergängen. Das kurze Presto mit dem schwebenden ersten Teil und dem wilden, nahezu verrückten Trio ist ein eindrucksvolles Beispiel für dieses gelassene Nebeneinander.

 

 

op. 59/1 F-Dur | 3. Adagio molto e mesto

Beethovens größte Stärke war ganz sicher auch seine größte Schwäche: Er hatte einen unverstellt vitalen Zugang zu all seinen Gefühlen und diese bestimmten sein Leben in hohem Maße. «Einen Trauerweiden- oder Akazien-Baum aufs Grab meines Bruders» notierte er auf einem Skizzenblatt zu diesem Satz. Zu dem Zeitpunkt waren beide Brüder noch am Leben, aber scheinbar glaubte Beethoven, seinen Bruder Kaspar Karl durch dessen Eheschließung bereits verloren zu haben. Mit jener verhassten Schwägerin würde Beethoven später erbittert über das Sorgerecht seines Neffen Karl prozessieren. Die Traurigkeit und Tiefe dieses Adagios nehmen wir auf, um den Text des «Heiligenstädter Testaments» musikalisch zu spiegeln.

 

 

Andante favori für Klavier WoO 57 F-Dur (arr. für Streichquartett von F. Poly)

Mit folgenden Worten sendet Beethoven das «Andante Favori» an Josephine: «sie waren so Traurig gestern Liebe J. – kann ich denn gar nichts auf sie wirken – da sie ja doch so sehr auf mich wircken – mich so glücklich machen – überlassen sie sich doch ja so sehr nicht ihrem Hange zur Traurigkeit, wie wehe thut mirs sie so zu sehen – und um so mehr, wenn man nicht weiß, wie oder wo mann helfen kann – hier ihr – ihr – Andante»

 

 

op. 95 f-Moll | 1. Allegro con brio, 2.Allegretto ma non troppo, 3.Allegro assai vivace ma serioso, 4. Larghetto espressivo – 

                              Allegretto agitato – Allegro 

 

1804, nach nur vier Ehejahren, starb der erste Mann von Josephine und sie blieb als Witwe mit vier Kindern zurück. Da intensivierte sich erneut der Kontakt zwischen Josephine und Beethoven. Liebesbriefe wanderten hin und her, bis sich Josephine schlussendlich der Beziehung entzog, weil sie sonst «heilige Bande» hätte verletzen müssen, wie sie selber schrieb. Es handelt sich wohl um die «heiligen Bande» der standesgemäßen Heirat, die notwendig waren, um das Sorgerecht für ihre Kinder zu behalten. Erneut wird Beethoven von einem ungeheuren Schmerz heimgesucht, als er von der Wiederverheiratung Josephines mit Baron von Stackelberg erfährt.

Mit ihm wird sie einige Jahre eine unglückliche Ehe führen. Diese Nachricht scheint ihn völlig aus der Fassung gebracht zu haben, wie die inneren Wechselbäder der Gefühle aus verzweifeltem Zorn und großer Zärtlichkeit seines Opus 95 mit beängstigender Präzision hören lassen. Der Kopfsatz ist der kürzeste, heftigste Sonatensatz, den Beethoven jemals geschrieben hat: dicht, wütend und sperrig. Dass das Werk ein intimes Bekenntnis war, können wir schon daran erkennen, dass es erst vier Jahre nach seiner Entstehung aufgeführt wurde und was noch ungewöhnlicher ist: Beethoven hatte gar nicht an eine Veröffentlichung gedacht, so persönlich war der Tonfall. Sechs Jahre (!) nach der Entstehung wurde das Werk publiziert und dazu schreibt er an George Smart nach London: «The Quartett is written for a small circle of connaisseurs and is never to be performed in public.» (Das Quartett ist für einen kleinen Kreis von Kennern geschrieben, aber auf keinen Fall, um es öffentlich aufzuführen.)

 

 

op. 130 B-Dur | 1. Adagio ma non troppo – Allegro

«Nicht sehen trennt von den Dingen, nicht hören trennt von den Menschen.»

Dieser Immanuel Kant zugeschriebene Satz kommt mir in den Sinn, wenn ich an Beethovens letzte Lebensjahre denke. Der völlig ertaubte Beethoven war sozial isoliert und kommunizieren bedeutete für ihn, seinen Gesprächspartnern einen Bleistift anzubieten, um ihre Worte in sein Konversationsheft zu schreiben. Die Antwort erfolgten meist mündlich. Flüssige Unterhaltungen waren so nicht mehr möglich, die «Gespräche» beschränkten sich auf das Allernötigste. Vor diesem Hintergrund erschließen sich seine späten Streichquartette: Ein großer Musiker ist zum Philosophen geworden. Im Kopfsatz prallen Gegensätze aufeinander, wie er sie im Alltag, der von seiner Taubheit geprägt war, wahrscheinlich besonders intensiv erlebte. Beethoven erzählt von der Welt, wie sie für ihn wirklich war – überwältigend und widersprüchlich – und nicht davon, wie sie hätte sein sollen.

 

 

op. 130 B-Dur | 5. Cavatina: Adagio molto espressivo

«Für ihn war die Krone aller Quartettsätze und sein Lieblingsstück die Cavatine aus dem B-Dur Quartett. Er hat sie wirklich unter Tränen der Wehmut komponiert, und gestand mir, dass noch nie seine eigene Musik einen solchen Eindruck auf ihn hervorgebracht habe, und dass selbst das Zurückempfinden dieses Stückes ihm immer neue Tränen koste», schrieb sein Freund Karl Holz über diesen Satz. Die Anweisung Beethovens für den zweiten Teil der Cavatine lautet «beklemmt». Kein anderer Satz könnte die Sterbeszene Josephines besser in Töne fassen als diese Cavatina.

 

 

op. 59/2 e-Moll | 2. Molto Adagio. Si tratta questo pezzo con molto di sentimento

«Man behandle dieses Stück mit viel Gefühl.» schrieb Beethoven als Aufführungshinweis. Durch folgenden Bericht seines Schülers Carl Czerny erschließt sich diese so ungewöhnliche Vortragsbezeichnung:

«Das Adagio E-Dur im 2. Rasumofskyschen Quartett fiel ihm ein, als er einst den gestirnten Himmel betrach- tete und an die Harmonie der Sphären dachte.» Nach dem Tod von Josephine hat Beethoven das Thema Freundschaft für sich aufgegeben. Nie aufgegeben hatte er jedoch das Staunen über die Wunder der Natur und des Lebens, dieses Staunen, das die unerschöpfliche Quelle seiner Musik war: «Hier, von diesen Naturprodukten umgeben, sitze ich oft stundenlang, und meine Sinne schwelgen in dem Anblick der empfangenden und gebärenden Kinder der Natur. Hier verhüllt mir die majestätische Sonne kein von Menschenhänden gemachtes Drecks- dach, der blaue Himmel ist hier mein sublimes Dach. Wenn ich am Abend den Himmel staunend betrachte und das Heer der ewig in seine Grenzen sich schwingenden Licht- körper, Sonnen oder Erden genannt, dann schwingt sich mein Geist über diese soviel Millionen Meilen entfernten Gestirne hin zur Urquelle, aus welcher alles Erschaffene strömt und aus welcher ewig neue Schöpfungen entströmen werden. Wenn ich dann und wann versuche, meinen aufgeregten Gefühlen in Tönen eine Form zu geben – ach, dann finde ich mich schrecklich getäuscht: ich werfe mein besudeltes Blatt auf die Erde und fühle mich fest überzeugt, dass kein Erdgeborener je die himmlischen Bilder, die seiner aufgeregten Phantasie in glücklicher Stunde vorschwebten, durch Töne, Worte, Farbe oder Meißel darzustellen imstande sein wird. – Ja, von oben muss es kommen, das was das Herz treffen soll; sonst sinds nur Noten, Körper ohne Geist

L. v. Beethoven, überliefert durch seinen Freund J. A. Stumpff

25 Jahre Einsamkeit

 

«Nicht sehen trennt von den Dingen, nicht hören trennt von den Menschen.»

Dieses Kant zugeschriebene Zitat drängt sich mir in den Sinn, wenn ich an die Tragödie Beethovens – seine Taubheit – denke.

Für Laien schwer vorstellbar und doch ganz klar: Das kleinste Problem seiner Taubheit war für Beethoven das Schreiben von Musik. Es war für ihn ein Leichtes, die Musik innerlich zu hören und dann zu notieren.

Die Tragödie seiner Taubheit lag in den für ihn daraus erwachsenden sozialen Schwierigkeiten. Seine Schwerhörigkeit trennte ihn von der Welt der Menschen um ihn herum. Interaktion wurde unendlich schwierig und mühsam, seine davor schon ausgeprägte Neigung zu misstrauen, verstärkte sich. Welche Zumutung diese Krankheit für ihn war, erfahren wir in einem erschütternden Brief an seinen Jugendfreund Wegeler aus dem Jahre 1801. Zum ersten Mal berichtet er von seiner großen und bedrückenden Not:

 

«Ich kann sagen, ich bringe mein Leben elend zu, seit zwei Jahren fast meide ich alle Gesellschaften, weil es mir nicht möglich ist den Menschen zu sagen: Ich bin taub. Hätte ich irgend ein anderes Fach, so ging’s noch eher, aber in meinem Fache ist das ein schrecklicher Zustand; dabei meine Feinde, deren Zahl nicht geringe ist, was würden diese hierzu sagen!»

 

Wir erkennen die Scham, die Beethoven erfüllt. Ihm ist völlig bewusst, dass ein tauber Musiker für die meisten Menschen eine befremdende Vorstellung ist. Er schreibt weiter:

 

«Um Dir einen Begriff dieser wunderbaren Taubheit zu geben, so sage ich Dir, dass ich im Theater ganz dicht am Orchester anlehnen muß, um den Schauspieler zu verstehen. Die hohen Töne von Instrumenten, Sing- stimmen, wenn ich etwas weit

weg bin, höre ich nicht; im Sprechen ist es zu verwundern, daß es Leute gibt, die es niemals merkten; da ich meistens Zerstreuungen hatte, hält man es dafür. Manchmal hör’ ich den Redenden, der leise spricht, kaum, ja die Töne wohl, aber dieWorte nicht; und sobald Jemand schreit ist es mir unausstehlich. Was nun werden wird, das weiß der liebe Himmel.

(...) Ich habe schon oft – mein Dasein verflucht; (...) Ich will, wenn’s anders möglich ist, meinem Schick- sale trotzen, obschon es Augenblicke meines Lebens geben wird, wo ich das unglücklichste Geschöpf Gottes sein werde.»

 

Ab 1818, also neun Jahre vor seinem Tod, war es für die Menschen um Beethoven nur noch möglich, sich in seine Konversationshefte schreibend mitzuteilen. Braun von Braunthals berichtet von einem Gasthausbesuch Beethovens:

 

«So trat er ein, setzte sich zu einem Glas Bier, rauchte aus einer langen Pfeife und schloss die Augen. Angesprochen oder vielmehr angeschrien von einem Bekannten, schlug er die Lider auf wie ein aus dem Schlummer geschreckter Adler, lächelte wehmütig und reichte dem Sprechenden ein Heft Papier mit dem Stifte hin, den er aus seiner Brusttasche zog, und ermahnte ihn mit jener den Tauben eigenen kreischenden Stimme,das zu Fragende niederzuschreiben. War dies geschehen, so schrieb

er die Antwort sogleich freundlich darunter oder gab eine solche auch mündlich.»

 

Wenn wir uns vergegenwärtigen, dass Beethoven bis zu seinem Tode 400 Konversationshefte füllte, dann bekommen wir eine Idee davon, mit welchem Aufwand der Kontakt zur Welt für ihn verbunden war: Heft herausnehmen, Bleistift anbieten, den anderen schreiben lassen und dann meistens mündlich reagieren, sehr selten schriftlich. Flüssige Gespräche waren nicht mehr möglich. Das oft so beglückende Hin und Her der Worte war gebremst und es ist auch sehr wahrscheinlich, dass sich die Gesprächspartner auf das Wesentliche konzentrierten.

 

Was es mit einem Menschen macht, wenn er Jahre seines Lebens in dieser radikalen Isolation und Verlangsamung bzw. Fokussierung der Kommunikation leben muss, wissen wir im Falle Beethovens genau. Die Werke seiner letzten neun Lebensjahre entwickeln sich in eine neue Dimension, die in den fünf letzten Streichquartetten gipfelt: Beethoven ist zum komponierenden Philosophen geworden. Wer die philosophische, spirituelle Aussage dieser Werke verleugnet, für den sind diese Quartette auch heute noch verstörend. Wer aber anerkennt, dass sie das Leben abbilden, wie es für Beethoven wirklich war und nicht, wie er es sich gewünscht hätte, der wird durch diese Musik zutiefst getröstet.

 

Wahrscheinlich bedurfte es dieser Einsamkeit: Sie trotzte ihm, dem Mutigen, die Entschlossenheit ab, so kompromisslos und ehrlich zu sprechen, wie er es mit diesen letzten Meisterwerken getan hat. 

 

 

Klaus Christa

 

Ludwig van Beethoven | Valentina, 8 Jahre
Ludwig van Beethoven | Valentina, 8 Jahre

Der Brief der Briefe

Interview von Klaus Christa mit Dr Rita Steblin

 

Nach dem Tode Beethovens wurde in seinem Sterbezimmer in einer Schublade ein Brief gefunden, der eine Frage aufgeworfen hat,

die die Musikwissenschaft bis heute in einem Maß beschäftigt, das seinesgleichen sucht: Der Brief an die «Unsterbliche Geliebte».

Die Frau, die Beethoven hier anspricht, ist die Liebe seines Lebens. Da er den Brief nie abgeschickt hat und die Empfängerin nur mit: «Mein Engel, mein Alles, mein Ich» anspricht, wissen wir nicht mit letzter Sicherheit, welche Frau er in diesem Brief gemeint hat.

 

Im 20. Jahrhundert ist eine leidenschaftliche Diskussion um die Identität der «Unsterblichen Geliebten» entbrannt, die zahlreiche Buchpublikationen hervorgebracht hat. In den letzten Jahrzehnten hat sich die Diskussion auf zwei Kandidatinnen zugespitzt: Josephine von Brunsvik und Antonie Brentano. Frage an Sie, Frau Steblin: Kann man das so sagen? 

 

Ja.

 

Frau Dr. Rita Steblin, wir freuen uns, mit Ihnen als jene Musikwissenschaftlerin zu sprechen, die die entscheidenden Beweise und Argumente zur Identifizierung von Josephine von Brunsvik als die «Unsterbliche Geliebte» eingebracht hat und das Rätsel mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit gelöst ist. Wie sind Sie in diese ja doch ziemlich hitzige Diskussion hineingeraten?

 

Mein Interesse für Josephine Brunsvik als die «Unsterbliche Geliebte» wurde durch Marie-Elisabeths Tellenbachs Buch «Beethoven und seine Unsterbliche Geliebte» aus dem Jahre 1983 geweckt, welches ich in den späten Achtzigerjahren in meiner Heimatstadt Vancouver gelesen habe. Sie war der Meinung, dass es sich bei der Geliebten um Josephine Brunsvik handelt. Im Gegensatz dazu vertrat der amerikanische Musikwissenschaftler Maynard Solomon 1972 die Theorie, dass Antonie Brentano Beethovens Geliebte gewesen sei. Nachdem ich 1991 nach Wien umzog, um an den Ikonographien von Schubert und Beethoven zu arbeiten, begriff ich, wie fehlerhaft Solomons Ansatz war. 1999 wurde ich dann für ein dreijähriges kanadisches Forschungsstipendium auserwählt, um über Franz Schubert und seinen Freundeskreis zu forschen. Das Stipendium war so gewidmet, dass ich es nicht zur Deckung meiner Lebenskosten in Wien ausgeben durfte, aber Forschungsreisen außerhalb Wiens waren erlaubt. Das führte dazu, dass ich nach Jindřichův Hradec, Prag, Budapest, Pressburg, Brünn und Bonn reiste. Überall dort gab es Material über Schuberts Freund Beethoven und seine Geliebte Josephine. 

 

Welche Überlegungen haben Sie zu ihrer Position geführt und wie haben Sie die entscheidenden Indizien entdeckt?

 

Beethoven schrieb am 6. und 7. Juli 1812 in Bad Teplitz seinen Brief an die namenlose «Unsterbliche Geliebte», nachdem er diese Frau ein paar Tage davor unerwartet in Prag getroffen hatte. Ich wusste, dass Beethoven in den Jahren von 1804 bis 1810 leidenschaftlich in die verwitwete Gräfin Brunsvik-Deym (1779–1821) verliebt war. Sie war für den Komponisten unglaublich wichtig, wie die fünfzehn Liebesbriefe, die er in dieser Zeit an sie schrieb, verraten. In diesen Briefen nennt er Josephine seine «einzige Geliebte», sein «Alles», und den «Engel seines Herzens». Ihre «Gedanken und Gefühle» hatten so «große Ähnlichkeit» zu den seinen. Es war ihr «ganzes Selbst» mit all ihren individuellen Qualitäten, die ihn zu ihr geführt hatten. Das Wissen darum, «ihr Herz gewonnen zu haben», würde seine Produktivität steigern; ihr Charakter war nur von Vorteil für ihn.

 

Wir besitzen keine anderen Briefe Beethovens an irgendeine Frau, in denen er so innige Gefühle der Zuneigung ausdrückt – mit Ausnahme des Briefes an die «Unsterbliche Geliebte», der mit «Mein Engel, mein Alles, mein Ich» beginnt. Als ich aus innerpsychologischen Gründen völlig überzeugt war, dass Josephine diese ungenannte, geheimnisvolle Person ist, begann ich intensiv in den Papieren, die sie auf ihrem Gut hinterließ, zu forschen. Diese Papiere liegen seit den späten 1940er Jahren im tschechischen Nationalarchiv in Jindřichův Hradec. 

In einem von Josephines Tagebüchern vom Juni 1812, die Zeit, in der sie von ihrem zweiten Ehemann, Christoph Freiherr von Stackelberg, getrennt war, fand ich die Notiz: «Ich will Liebert in Prag sprechen», was darauf hinwies, dass sie nach Prag reisen wollte. Das war der entscheidende Schlüssel, der auf Josephines Anwesenheit in der böhmischen Hauptstadt im frühen Juli hinwies, als Beethoven diese geheimnisvolle Frau dort traf.

 

Sie haben sich ja intensiv mit dem Leben von Beethovens «Unsterblicher Geliebten» Josephine von Brunsvik beschäftigt. Können Sie uns einige wichtige Dinge aus Josephines Leben erzählen?

 

Genau neun Monate nach dem Treffen in Prag brachte Josephine ihr siebtes Kind zur Welt. Ich bin überzeugt, dass sie Beethovens Tochter war. Aber Josephine konnte ihren Ehemann Stackelberg von seiner Vaterschaft überzeugen und ihm das «Kuckuckskind» unterjubeln. Es gibt einige Einträge in Beethovens Tagebuch des Jahres 1812 und in seinen späten Konversationsbüchern, die darauf hinweisen, dass er wusste, dass Minona (von hinten gelesen: Anonim) sein Kind war. Dies habe ich alles in meinem Artikel «Unsterbliche Geliebte, des Rätsels Lösung» in der ÖMZ 64/2 (2009) dargelegt. Minona wurde von Stackelberg 1814 «gekidnappt». Er erreichte eine Verfügung, dass er sie mit ihren beiden Schwestern Maria Laura und Theophile mitnehmen konnte, gab sie dann zu einem Pfarrer in Böhmen und danach wuchsen sie in Estland, seiner Heimat, auf. Minona blieb zeitlebens unverheiratet und zog später nach Wien, wo sie im Palais Cavriani in der Habsburggasse 5 wohnte. Sie ist auf dem Zentralfriedhof beerdigt, nicht weit vom Grab Beethovens. 

 

Josephines weiteres Leben war sehr tragisch. 1815 brachte sie ein achtes Kind, Emilie, zur Welt, deren Vater ein zwielichtiger Lehrer namens Karl Eduard von Andrehan-Werburg, genannt Andrian, war. Dieses Kind starb im Alter von zwei Jahren an den Masern. Josephine litt an Darmkoliken, wurde bettlägerig und starb am 31. März 1821, kurz nach ihrem 42. Geburtstag.