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Gedanken über das Streichquintett von Franz Schubert

Klaus Christa

Es gibt einige Werke der Musikgeschichte, die kein Alter kennen, Werke, die so wahr und so unmittelbar sind, dass wir alle ihrer bedürfen. Mir ist die erste Begegnung mit dem Streichquintett  von Franz Schubert noch so gegenwärtig und lebendig, als hätte sie gestern stattgefunden. Die Erinnerung daran versetzt mich heute noch in großes Entzücken: Die Semesterferien im Musikgymnasium Feldkirch waren angebrochen, eine  Reise vom kleinen Feldkirch nach Wien war geplant. Ich war sechzehn oder siebzehn Jahre alt und fuhr mit einem guten Freund nach Wien, um ein paar Tage in der Wohnung eines seiner älteren Brüder zu verbringen.

 

In dem Raum, in dem ich schlief, befand sich eine Stereoanlage und im Plattenregal stand diese Schallplatte der Deutschen Grammophon, die diesen Schatz von Schubert barg. Es war Nacht, ich legte die Platte auf und nach wenigen Sekunden geschah das Wunder, das mich heute noch ein wenig Schaudern lässt: da kam dieses unglaubliche Seitenthema daher, eine schlichte zweistimmige Melodie und sofort fühlte ich, dass all meine Sehnsüchte, all meine Melancholie, all meine Glückseligkeit unter diesem “musikalischen” Dach ausruhen konnten- diese Melodie berührte mich tief im Herzen und erlöste mich. Wenn ich mich als Musiker heute diesem Stück widme, erwacht an dieser magischen Stelle diese so süße Erinnerung an diesen nächtlichen Augenblick in dieser Wohnung in der Wiener Schleifmühlgasse.

 

Jedes Menschenleben hat diese unscheinbaren unbeobachteten Momente, in denen sich Schicksalhaftes ereignet-  wahrscheinlich waren diese Sekunden in einer Februarnacht der beginnenden Achtzigerjahre des letzten Jahrhunderts wesentlich für meine Entscheidung, den Weg des Musikers einzuschlagen . Ich glaube, den Beruf des Musikers sollte man sich nicht aussuchen, es ist besser, ihm wehrlos zu verfallen- zu vielfältig sind die Herausforderungen, die man meistern muss.  Dieses Streichquintett in C-Dur, das Schubert wenige Monate vor seinem Tod schuf,  es verfügt über jene mystische Zauberkraft,  von der heute so viele Menschen  träumen, wenn sie “Harry Potter” Romane und dergleichen lesen. Das Streichquintett ist keine Sehnsucht, es ist eine Wirklichkeit, ein Wirklichkeit, die all unseren Gefühlen von tiefer Freude bis zur einsamen Hoffnungslosigkeit  wahre Heimat bietet.

 

So denke ich in diesem Augenblick an meine geschätzte Kollegin Irina Puryshinskaja, eine wunderbare, sensible Pianistin, die vor wenigen Monaten im Alter von 46 Jahren verstarb.  Sie wünschte sich zu ihrer Beerdigung ein bestimmtes Musikstück: den zweiten Satz dieses Streichquintetts von Franz Schubert. Ich kann diese Wahl so gut verstehen.Dieser Satz reißt die Mauer ein zwischen der tiefen Verzweiflung und jenem süßen Frieden, der unter all diesen Wellen des Alltags verborgen ist.

 

Schubert nimmt uns an der Hand und  scheint uns zuzuflüstern: Sieh das große Ganze, der Tod ist nur dieser Durchgang durch diese Wand, die uns auf dieser Erde oft so undurchdringlich erscheint. Der Durchgang, der uns mit dem großen Geheimnis verbindet, das uns oft so beängstigend geheimnisvoll erscheint.

 

Tiefer Friede und zärtliche Liebe, beide klingen sie so “wirklich” in diesem so ungeheuren Satz, durchbrochen von einem Mittelteil, der allen  Schmerz, den wir uns nur irgendwie vorstellen können, hinausschreit. Keine wütendere Verzweiflung ist in diesem Moment vorstellbar- und dann bricht dieser Schrei des Widerstands zusammen- in totale Erschöpfung, in totale Aufgabe.  Dann geschieht das wahre Wunder.  Jenes “ewige” Fliessen des Anfangs kehrt wieder, bereichert durch wellenhafte Umspielungen im 2.Cello und den sanft sprechenden Antworten der ersten Geige. Auf einmal durchströmt dieses tröstende Gefühlt unser Herz:  im Grunde  kann uns nichts geschehen, absolut gar nichts. Hinter allem Leid und allem Schmerz ist nur eine Wirklichkeit verborgen und die ist schön, wunderschön. Sie ist uns meistens noch geheim  und nur selten glauben wir wirklich an sie.

 

Doch etwas in uns weiß, sie ist wahr.

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